Widerrufsrecht bei Verbraucherkreditverträgen: EuGH-Urteil zu Fristbeginn und Rechtsfolgen
- Erika Leitgeb
- 9. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Der Europäische Gerichtshof hat am 30. Oktober 2025 in der Rechtssache C-143/23 grundlegende Klarstellungen zum Widerrufsrecht bei Verbraucherkreditverträgen getroffen und dabei wichtige Vorgaben zur Verbraucherkredit-Richtlinie 2008/48/EG interpretiert.

Bedeutung der Entscheidung im Kontext der CCD II
Das Urteil betrifft die noch geltende Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG (CCD), obwohl diese durch die neue Richtlinie 2023/2225/EU (CCD II) abgelöst wird. Die CCD II muss bis zum 20. November 2025 von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden und gilt ab dem 20. November 2026. Entscheidend ist jedoch, dass die alte Richtlinie auf alle am 20. November bestehenden Kreditverträge bis zu deren Laufzeitende weiterhin anwendbar bleibt. Dies macht die Grundsätze des EuGH-Urteils für die Praxis noch lange relevant.
Fristbeginn der Widerrufsfrist: Vollständigkeit der Pflichtangaben entscheidend
Der EuGH stellt klar, dass die 14-tägige Widerrufsfrist nur dann zu laufen beginnt, wenn der Verbraucher sämtliche in Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie vorgeschriebenen Informationen erhalten hat. Besonders hervorzuheben ist die Anforderung bezüglich des Verzugszinssatzes:
Der Verzugszinssatz muss als konkreter Prozentsatz im Kreditvertrag angegeben sein
Eine bloß allgemeine oder abstrakte Formulierung reicht nicht aus
Fehlt diese Angabe vollständig, beginnt die Widerrufsfrist überhaupt nicht zu laufen
Die Frist bleibt so lange suspendiert, bis die fehlende Information ordnungsgemäß nachgereicht wurde
Der Gerichtshof begründet dies damit, dass die vorvertraglichen Informationen dem Verbraucher ermöglichen sollen, die Tragweite seiner vertraglichen Verpflichtungen bewusst zu bewerten und eine informierte Entscheidung über den Vertragsabschluss zu treffen. Die Angabe des Verzugszinssatzes ist dabei unverzichtbar, um die wirtschaftlichen Folgen einer möglichen Zahlungsverzögerung einschätzen zu können.
Ausschluss der Missbrauchseinrede durch den Kreditgeber
In seiner Entscheidung befasst sich der EuGH auch mit der Frage, ob ein Kreditgeber dem Verbraucher rechtsmissbräuchliches Verhalten vorwerfen kann, wenn dieser sein Widerrufsrecht erst nach längerer Zeit ausübt. Der Gerichtshof verneint dies kategorisch für den Fall, dass eine Pflichtinformation fehlt:
Solange eine obligatorische Angabe nach Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie im Vertrag fehlt und auch nicht nachträglich mitgeteilt wurde, läuft die Widerrufsfrist nicht
Der Kreditgeber kann sich in diesem Fall nicht auf Rechtsmissbrauch berufen, auch wenn der Verbraucher erst nach Jahren vom Vertrag zurücktritt
Das Verhalten des Verbrauchers zwischen Vertragsschluss und Widerruf ist irrelevant, wenn die Informationspflichten nicht erfüllt wurden
Der Gerichtshof verweist auf das allgemeine Rechtsprinzip, dass sich niemand missbräuchlich auf EU-Recht berufen darf. Allerdings erfordert der Nachweise eines Rechtsmissbrauchs einen strengen Maßstab mit zwei kumulativen Voraussetzungen:
Objektive Umstände, die zeigen, dass die Zielsetzung der Regelung trotz formaler Erfüllung nicht erreicht wurde
Die Absicht, sich einen Vorteil durch künstliche Schaffung der erforderlichen Voraussetzungen zu verschaffen.
Berechnung der Wertminderungsentschädigung bei Rückgabe des finanzierten Fahrzeugs
Bei Kreditbeträgen, die mit einem Fahrzeugkaufvertrag verbunden sind, stellt sich im Falle des Widerrufs die Frage, welche Entschädigung der Verbraucher für die Wertminderung des genutzten Fahrzeugs zahlen muss. Der EuGH legt hierzu wichtige Grundsätze fest:
Die Berechnungsmethode darf nur Elemente berücksichtigen, die tatsächlich auf die Nutzung durch den Verbraucher zurückzuführen sind
Eine Berechnung, die auf der Differenz zwischen Verkaufspreis und Rückkaufpreis des Händlers basiert, ist unzulässig, wenn sie externe Faktoren wie Handelsspannen, Wiederverkaufskosten oder Mehrwertsteuer einbezieht
Eine unverhältnismäßig hohe Entschädigung, die nicht dem tatsächlichen Wertverlust durch Gebrauch entspricht, würde das Widerrufsrecht faktisch entwerten
Der Gerichtshof betont unter Verweis auf die Rechtssache Messner (C-489/07), dass die Verhältnismäßigkeit der Entschädigung anhand einer konkreten Prüfung des Fahrzeugzustands und der tatsächlichen Abnutzung zu beurteilen ist
Zinspflicht trotz Widerrufs
Der EuGH bestätigt, dass nationale Regelungen mit dem EU-Recht vereinbar sind, die den Verbraucher nach Ausübung des Widerrufsrechts zur Zahlung von Sollzinsen verpflichtet. Diese Zinsen sind für den Zeitraum zwischen Auszahlung der Kreditsumme an den Verkäufer und Rückgabe es Fahrzeugs zu entrichten.
Diese Regelung wird vom Gerichtshof mit folgenden Argumente gerechtfertigt:
Der Kreditgeber hat sich vorübergehend der an den Verkäufer gezahlten Summe entäußert, was für ihn eine Kapitalbindung und ein finanzielles Risiko darstellt
Die aufgelaufenen Zinsen stellen eine Strafe dar, sondern sind das Entgelt für die Kreditgewährung, die grundsätzlich entgeltlich ist
Die Zinspflicht wahrt das vertragliche Gleichgewicht und verhindert, dass der Verbraucher durch Ausübung des Widerrufsrechts einen ungerechtfertigten Vorteil erzielt
Harmonisierungsgrad und nationale Gestaltungsspielräume
Der EuGH stellt klar, dass die Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG keine vollständige Harmonisierung der Rechtsfolgen des Widerrufs bei verbundenen Verträgen vornimmt. Art. 14 Abs. 3 lit. b) regelt lediglich die Rückzahlung des Kapitals und der Zinsen, nicht aber die Konsequenzen für den verbundenen Kaufvertrag.
Den Mitgliedstaaten verbleibt daher ein Gestaltungsspielraum, wobei sie folgende Prinzipien beachten müssen:
Äquivalenzprinzip: Nationale Regelungen dürfen nicht ungünstiger sein als vergleichbare rein nationale Sachverhalte
Effektivitätsprinzip: Die Ausübung des Widerrufsrechts darf nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden
💡 Hinweis für Institute:
Überprüfen Sie Ihre Kreditvertragsformulare auf die konkrete prozentuale Angabe des Verzugszinssatzes. Eine fehlende oder unklare Angabe führt dazu, dass die Widerrufsfrist überhaupt nicht zu laufen beginnt, was erhebliche Rechtsrisiken birgt. Bei verbundenen Verträgen (z.B. Fahrzeugfinanzierung) sollten Sie transparente Regelungen zur Wertminderungsentschädigung implementieren, die sich ausschließlich am tatsächlichen Nutzungsumfang orientieren. Dokumentieren Sie die Übermittlung aller Pflichtinformationen sorgfältig, um im Streitfall den Fristbeginn nachweisen zu können. Beachten Sie, dass ab 20. November 2026 die neue CCD II gilt, während für Altverträge die bisherigen Regelungen weiter anwendbar bleiben - dies erfordert eine doppelte Prozessführung für einen Übergangszeitraum.
Quelle / Eckdaten
👉 Link zum Dokument | Urteil des EuGH wird unter der Rechtssachennummer C-143/23 im EUR-Lex veröffentlicht |
Referenz | EuGH, Rechtssache C-143/23 |
📅 Veröffentlichung | 30. Oktober 2025 |
Art des Dokuments | Urteil |
Herausgeber | Gerichtshof der Europäischen Union, IV. Kammer |
⚖️ Rechtsgrundlage | Auslegung von Art. 10 Abs. 2 lit. l) und Art. 14 Abs. 1 und 3 lit. b) der Richtlinie 2008/48/EG über Verbraucherkreditverträge |
Adressaten | Alle Kreditinstitute und Finanzintermediäre in der EU, die Verbraucherkreditverträge anbieten |
✅ Status | Rechtskräftiges Urteil mit bindender Wirkung für alle EU-Mitgliedstaaten |
📅 Datum Erstanwendung | Unmittelbar anwendbar; relevant für alle bis 20. November 2026 bestehenden Kreditverträge während deren gesamter Laufzeit |



